13. September 2015

Grenzrealitäten in Zeiten der „Flüchtlingskrise“

Wir über den Wolken, und unter uns der Krieg.


Leise rauscht die Lüftung über dem tiefen Vibrieren der Düsenmotoren. Von den Bildschirmen an den Rückenlehnen flackern Filme. Neben mir sitzt ein älterer Herr und erzählt mir davon, was gerade ganz Deutschland beschäftigt: Flüchtlinge. Die hunderttausenden, die da kommen, und die man nicht will.

Zwei Jahre sind vergangen, seit ich in Marokko die Protagonisten dieses Buches traf und deren Erzählungen aufzeichnete. An der Situation vor Europas Grenze hat sich wenig geändert. An deren öffentlichen Wahrnehmung viel. Unter uns zieht Land vorbei. Wir fliegen über alle Grenzen hinweg. Über München und Wien, in achttausend Meter Höhe an Budapest vorbei. Da unten irgendwo ist Mazedonien mit seinem Ausnahmezustand, Soldaten und Stacheldraht gegen Flüchtlinge. Da ist das Mittelmeer mit seinen Toten.

Während ich 2013 oft erst erklären musste, was es mit den Zäunen vor Ceuta und Melilla auf sich hat, sind die Bilder kletternder Menschen auf der EU-Festungsmauer heute so bekannt wie die Bilder überfüllter Flüchtlingsboote im Mittelmeer. 2015 sind Menschen auf der Flucht das mediale Sommerthema schlechthin: Neue Grenzzäune in Ungarn, zehntausende Ankommende in Deutschland und Österreich, brennende Asylheime, ein Exzess an menschenfeindlichen Kommentaren in sozialen Medien – und dann die große Wende der Öffentlichkeit, als selbst die Boulevardmedien auf den Zug der Solidarität aufsprangen: Die rassistische Hetze wird verurteilt, Deutschland setzt die Ausschaffung syrischer Flüchtlinge in die EU-Ankunftsländer aus, Angela Merkel wird dafür geradezu gefeiert, Asylheime werden mit nie gesehenen Mengen an Materialspenden eingedeckt und eine breite Öffentlichkeit zeigt sich schockiert ab dem Bild eines an den Strand geschwemmten kleinen kurdischen Jungen in der Türkei, dem die Flucht vor dem Krieg nach Europa das Leben kostete.

Das alles ist ermutigend. Und hinterlässt doch einen bitteren Nachgeschmack. Denn die Taten hinter der vorgegebenen Empörung entsprechen dem Minimum, das die europäische Politik zu leisten gezwungen ist. Selbst Aufnahme von einer Million Flüchtlingen in der EU wäre angesichts der 60 Millionen Vertriebenen weltweit keinen wirklich großen Anteil. Doch abgesehen davon werden weiterhin nur jene aufgenommen, denen es gelingt, die immer stärker ausgebaute europäische Grenzfestung zu überwinden. Und während vordergründig die Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen versprochen wird, werden im Hintergrund die Budgets für die Grenzüberwachung kräftig aufgestockt. Ungarn erlässt ein neues Gesetz, wonach jeder Flüchtling, der das Land betritt, wegen „illegalem Aufenthalt“ zu drei Jahren Haft verurteilt werden kann. An allen Grenzen entstehen neue Mauern. Und in Transitländern wie Marokko und der Türkei sollen „Empfangslager“ für Flüchtlinge errichtet werden.

Europas Mauern werden auch in Konsequenz dieser „Flüchtlingskrise“ höher gezogen. Marokko wird dabei als „fortschrittlichster“ Partner der EU in Sachen Migrationsbekämpfung gepriesen und erhält für sein Regularisierungs- und Integrationsprogramm millionenschwere Unterstützung. Dass dieses nur bedingt Früchte tragen kann in einem Land, in dem 20% der eigenen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, wird großzügig außer Acht gelassen. Und auch diesen Sommer ist die marokkanische Armee wieder gewaltsam gegen Flüchtlinge und Migranten vorgegangen: Selbstverwaltete Flüchtlingscamps in der Gegend von Nador und Oujda wurden niedergebrannt und die besetzten leerstehenden Siedlungen in Tanger-Boukhalef geräumt. Die Bewohner landeten mittellos auf der Straße oder wurden in den Süden abgeschoben. An der in „Am Fuße der Festung“ beschriebenen Realität hat sich wenig geändert.

Ob wir wohl über den Irak fliegen? Leicht beunruhigt folgt der Herr neben mir der gelben Linie, welche sich durch den nahen Osten zieht. Fliegen wir über ein Kriegsgebiet, oder knapp daran vorbei? Da stehen die bekannten Namen auf der Karte unter uns: Raqqa, Mosul, Erbil. Die Luken sind geschlossen. Sonst sähe man wohl die Lichter der Städte im Krieg.

In Europas Öffentlichkeit wird über die eigentlichen Probleme weiterhin geschwiegen. Die aktive Teilnahme der europäischen Länder an den Konflikten und Krisen, welche die Menschen in die Flucht treiben, wird nicht diskutiert. Die Gelder, Waffen und Wirtschaftsinteressen von EU-Ländern und engen EU-Partnern wie der Türkei, den USA und den Golf-Staaten, welche die heutigen Konflikte in Jemen, Syrien, Irak, Libyen, Afghanistan etc. auslösten und anheizten, sind kein Thema. Dass fünfzig Prozent des weltweiten Rohstoffhandels über Firmen in der Schweiz abgewickelt wird, scheint mit der „Armut der dritten Welt“ nichts zu tun zu haben. Und dass der gegenwärtige materielle Wohlstand der technologisch hochentwickelten Nationen von der Destabilisierung und Plünderung ganzer Weltregionen abhängt, ist eine viel zu sensible Wahrheit für ein Volk, das noch immer gerne Reichtum mit Fleiß begründet.

Doch Migrationsbewegungen sind immer Reaktionen auf Ungleichgewichte zwischen armen und reichen Ländern, instabilen und stabilen Regionen, und in einer globalisierten Welt existieren diese längst nicht mehr unabhängig voneinander. Es gibt nur eine Möglichkeit, einem gewaltsamen und immer hässlicheren Ausgleich dieses weltweiten Ungleichgewichtes zuvorzukommen: Die Schranken, Zäune und Mauern auflösen, welche nur errichtet wurden, um eben diesen Ausgleich zu verhindern. Nur die konsequente Umsetzung des Rechtes eines jeden Menschen, sich frei auf diesem Planeten bewegen zu können, in Respekt vor dem Anderen und mit gleichen Rechten, kann als sensibler Ausgleichsmechanismus dem Entstehen grosser Ungleichgewichte entgegenwirken.

Wir fliegen eine Schleife um Syrien und den Irak herum. Wir sind sicher. Der Herr neben mir erzählt jetzt vom Krieg, den er selbst erlebte, als er acht Jahre alt war, 1945, und die Amerikaner die Städte zerbombten und die Häuser besetzten. Als es keine Schule mehr gab und sich die Kinder in die besetzten Häuser schlichen um von den Soldaten Zigaretten, Kaugummis und Orangen zu klauen. Und er erzählt mir von der Fahrt in der S-Bahn von Frakfurt-Hauptbahnhof nach Frankfurt-Flughafen. Davon, dass alle Fahrgäste eine andere Sprache sprachen. Nur keiner Deutsch. „Wir sind ja bald Fremde im eigenen Land.“

In drei Stunden landen wir in Dubai. Das Paradebeispiel des erfolgreichen Kapitalismus in seiner Reinkultur. Ein Staat, in dem 85% der Bevölkerung aus ausländischen Arbeitskräften besteht. Gäste mit eingeschränkten Rechten. Eine moderne Art von Sklaverei. Auch in Europa findet eine zunehmende Globalisierung der Bevölkerung statt. Alteingesessene Kulturen lösen sich auf, und es entsteht eine neue, globale Zivilisationskultur in einem technologischen Umfeld. Eine Entwicklung, die verunsichert und nicht nur Gutes mit sich bringt.

Doch es ist unumgänglich zu verstehen, dass diese Entwicklung nicht durch Flüchtlinge ausgelöst wurde. Auch nicht durch Arbeitsmigranten, Abenteurer oder fremde Diktatoren. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer fünfhundert Jahre alten europäischen Expansions- und Eroberungskultur. Einer Kultur, die sich ganz Amerika unterwarf, Afrika destabilisierte und zum Rohstofflager machte, den nahen Osten zum Brennstofflieferanten umfunktionierte und Asien zum Ziehkind seines technozivilisatorischen Traumes machte. Und nachdem sie sich weltweit manifestierte und dabei ist, eine globale Gesellschaft aufzubauen, werden wir nun damit konfrontiert, dass auch ihre ursprüngliche kulturelle Basis sich auflöst. Doch wir können die Schuld dafür nicht jenen zuschieben, die am meisten unter dieser Entwicklung leiden, und die sich in Folge der dadurch ausgelösten Kriege, Krisen und Perspektivenlosigkeit gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen und anderswo ihr Glück zu suchen.

Wir sind der Nacht entgegengeflogen. Die drei Stunden Zeitverschiebung zwischen Dubai und Marokko hatten Naomis Leben schicksalshaft bestimmt (Am Fuße der Festung, S. 42). Nachdem sie ihren Flug in die Ukraine verpasste, musste sie zurück nach Marokko, wo sie fünf lange Jahre strandete. Ich rechne die Uhrzeit dreimal nach. Doch mein Leben würde es nicht verändern, wenn ich meinen Flug verpasste.